Dr. Martin Lück im Gespräch über die aktuellen Herausforderungen an den Kapitalmärkten und was noch auf uns zukommen wird.

Herr Lück, das makroökonomische Bild hat sich im Jahr 2022 enorm verschlechtert. Was bewegt Sie derzeit?

Wir leben nicht mehr in einer Welt, in der die Weltwirtschaft sich durch die Zentralbanken und Fiskalpolitik einfach steuern lässt. Die Zeit, in der die Schwankungen in der Wirtschaftsaktivität und der Inflation von der Nachfrage Seite kam, ist somit vorbei.

Wir erleben eine Zeitenwende, denn im Moment kommen die Schwankungen hauptsächlich von der Angebotsseite, hervorgerufen durch Themen wie die Energiekrise, einen Mangel an Seltenen Erden oder dem Fachkräftemangel. Dies ist ein grundlegender Unterschied, mit massiven Auswirkungen, da die Wirtschaftspolitik auf die Angebotsseite nicht so gut einwirken kann. Daher glaube ich auch, dass die starke Volatilität auf längere Sicht in unseren Märkten bleiben wird, insbesondere in Bezug auf Aktien und Anleihen.

Wird diese „Zeitenwende“ auch dazu führen, dass Anleger ihre Anlagephilosophie überdenken müssen?

Ich denke ja. Anleger werden zukünftig mehr nachsteuern müssen. Die taktische Allokation wird viel stärker gefordert werden und man wird zukünftig als Portfoliomanager viel öfter in das Portfolio schauen müssen. Darüber hinaus erleben wir das eher seltene Szenario einer Stagflation. Aktien und Anleihen fallen gleichzeitig und man muss sich dagegen entsprechend schützen. Daher sollte man das Portfolio nicht mehr nur aus den beiden genannten Assets zusammen mischen, sondern auch andere Assets beimengen und somit die Portfoliostruktur verändern. Beispielsweise jeweils ein Drittel Aktien, Anleihen und Alternatives.

Müssen die Gewinnschätzungen der Analysten noch weiter nach unten?

Über die nächsten Monate gehe ich davon aus, dass wir weiterhin starke Korrekturen bei den Gewinnerwartungen in den Bereichen Einzelhandel, Konsum und Immobilien sehen werden. Auf der Konsum-Seite werden die Europäer stark von der steigenden Energiekomponente gebeutelt und müssen mit ihren Geldern stärker haushalten. Auf der Immobilienseite sorgen die starken Zinsanstiege dafür, dass es unattraktiver wird, Immobilien zu finanzieren und somit die Nachfrageseite gebremst wird. Auch hier gilt es also weiterhin aufzupassen, denn die Häuserpreise könnten darunter in den kommenden Monaten noch leiden.

Was halten Sie von dem fiktiven Szenario, dass die FED den Inflationskorridor von 1-2% langfristig neu ausrichtet, um der Wahrheit ins Auge zu blicken, dass die Inflation strukturell bedingt ist?

Das halte ich für eine ganz schlechte Idee. Das wichtigste Gut einer Zentralbank ist ihre Glaubwürdigkeit. Als Zentralbank muss ich meine Schritte und Entscheidungen gut kommunizieren. Eine Anhebung des Korridors würde mit einem erheblichen Gesichtsverlust einhergehen. Ich finde aber, dass Jerome Powell die aktuelle Situation extrem offen und meines Erachtens auch gut kommuniziert. Er sagt, dass man als Zentralbank gegen die Komponente der Angebots-getriebenen Inflation relativ wenig ausrichten kann. Auf der anderen Seite kann die Zentralbank laut ihm aber auf die Nachfrageseite einwirken, wenn ein Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage ersichtlich wird. Dies kann er in Form einer Rezession herbeiführen und das tut die FED nun auch.

Die Kommunikation auf Seiten der EZB wirkt dagegen um einiges schwächer. Woran liegt das?

Die EZB hat, anders als die FED, die Interessen verschiedener Länder in einer Währungsunion zu berücksichtigen. Das macht Entscheidungen komplexer und erschwert schnelles Gegensteuern.

Anfang des Jahres sprachen alle vom „Commodity Supercycle“. Die Preise an den Terminmärkten haben sich zuletzt wieder stark abgekühlt. Ist der Bullenmarkt hier bereits wieder Geschichte?

Was wir momentan sehen, ist, dass viele Rohstoffpreise eine globale Rezession einpreisen. Denn fällt die globale Nachfrage, benötigt man auch grundsätzlich weniger Rohstoffe. Das Angebot lässt sich auf der Rohstoffseite auch nicht so einfach zurückfahren, denn man kann nicht ohne weiteres von heute auf morgen Minen schließen oder Ölquellen versickern lassen. Ich glaube hier ist mittlerweile bereits vieles eingepreist worden und bezweifle daher, dass die Rohstoffpreise noch viel weiter fallen werden.

Ein Beispiel dafür sind die Preise für europäisches Gas, welche in den letzten Monaten stark korrigiert haben. Dies lässt sich damit erklären, dass die Lagerbestände so stark ausgereizt wurden, dass wir mittlerweile LNG-Tanker vor den Küsten in Europa parken, weil kein Platz mehr da ist.

Mittel bis langfristig werden wir unfassbar viele Rohstoffe brauchen, um die Infrastruktur zu bauen für die grüne Transformation unserer Gesellschaft. Von daher wird die Nachfrage hier auch wieder zurückkommen. Darüber hinaus brauchen wir diese Investitionen nicht irgendwann, sondern jetzt. Das ist aber in vielen Rohstoffpreise noch nicht eingepreist. Von daher ist es eine gute Idee, über den Aufbau von Rohstoffpositionen im Portfolio nachzudenken.

Vielleicht haben wir noch nicht den Tiefpunkt bei den Aktienpreisen gesehen, dafür vielleicht bei den Rohstoffpreisen.

Was stimmt Sie bei all den Rezessionsszenarien und trüben Sentiment für 2023 optimistisch?

Relativ wenig. Ich gehe davon aus, dass wir innerhalb des Jahres 2023 ein Ende des Zinsanhebungszykluses sehen werden. Das Ende ist also trotz allem in Sicht. Gerade in Deutschland wird uns von Tag zu Tag auch immer bewusster welch große Entscheidungen wir in den letzten Jahren alle verschlafen haben, ein Umdenken findet also statt. Das finde ich ebenfalls, als positiv zu bewerten, bei allen Herausforderungen, die dies mit sich bringt.

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