Chefvolkswirt Thorsten Polleit

Energie und Lebensmittel sind in letzter Zeit immer teurer geworden – zum Nachteil der Verbraucher. Dem Staat kommt die hohe Inflation jedoch zugute, sagt Degussa-Chefvolkswirt Thorsten Polleit.

Wenn man versucht zu verstehen, warum Menschen dieses oder jenes tun, warum sie eine bestimmte Institution und keine andere errichten, dann fragt man am besten zunächst „Cui Bono“? Das ist lateinisch und heißt „Wem nützt es?“ Und die Frage „Wem nützt es?“ sollte man gerade dann stellen, wenn es um Inflation geht.

Die Antwort auf die Frage „Wem nützt die Inflation“ sei gleich vorab gegeben: Inflation nützt dem Staat. Und weil diese Antwort viele vielleicht gar nicht gern hören und akzeptieren wollen, versuche ich die Erklärung nachzuliefern.

Am Anfang steht die Erkenntnis: Der Staat (wie wir ihn heute kennen) hat nur eine Einnahmequelle: und das sind die Einkommen der Arbeitenden, der Produktiven. An deren Einkommen gelangt er, indem er Steuern erhebt. Die offene Besteuerung erfolgt in Form von zum Beispiel Einkommens­und Mehrwertsteuer. Sie stößt jedoch in der Regel recht rasch an ihre Grenzen. Die Besteuerten protestieren, wenn die Steuern zu stark steigen; sie wollen sich eben nicht allzu sehr ausplündern lassen.

Um dem Widerstand gegen die offene Besteuerung auszuweichen, setzt der Staat auf eine heimliche Steuer, und zwar die „Inflationssteuer“. Das bedeutet, dass der Staat sich sprichwörtlich neues Geld druckt, mit dem er alles das kauft und bezahlt, was er haben will.

Und genau zu diesem Zweck hat der Staat das Geld monopolisiert und das Waren- beziehungsweise Goldgeld durch sein eigenes ungedecktes Papiergeld, sein Fiat-Geld ersetzt. Denn anders als das Goldgeld lässt sich das staatliche Fiat-Geld beliebig und jederzeit vermehren, und die dadurch erzeugte Inflation spielt dem Staat auch noch auf vielfältige Weise in die Hände.

Ein Staat, der eine Fiat-Währung hat, kann nicht Pleite gehen. Er kann in seinem eigenen Geld ausgewiesene Schulden aufnehmen, und wenn er will, kann er die Schulden auch jederzeit problemlos zurückzahlen, indem er sein eigenes Geld vermehrt.

Erhebt der Staat eine progressive Einkommenssteuer, sorgt die Inflation für eine „kalte Progression“: Mit der Inflation ziehen früher oder später auch die Löhne an, und die Einkommensverdiener, obwohl ihre Löhne in realer, das heißt inflationsbereinigter Rechnung nicht steigen, rutschen unter einen höheren Steuertarif. Ihre reale Steuerlast steigt, der Staat freut sich.

Ein ähnlicher Effekt stellt sich ein, wenn die Inflation für Scheingewinne in den Unternehmensbilanzen sorgt. Scheingewinne entstehen, wenn Firmen ihre Produkte zu inflationsbedingt gestiegenen Preisen verkaufen, die in der Firmenbilanz ausgewiesenen Aufwendungen jedoch mit ihren historischen Anschaffungskosten angesetzt werden. Die Besteuerung der inflationär aufgeblähten Gewinne entzieht den Firmen Substanz, die in die Hände des Staates gelangt.

Die Inflation, wenn sie von den Menschen nicht korrekt vorhergesehen und ihre Wirkung nicht vollumfänglich verstanden wird, verarmt die breite Bevölkerung: Ihr Wohlstand steigt im Zeitablauf weniger stark an, als er ohne Inflation steigen würde; oder, wenn die Inflation gar zu hoch wird, kann das Wohlstandsniveau auch absolut fallen (man denke beispielsweise an Venezuela).

Bedürftigkeit und Not – und das ist auch eine Folge der Inflation – treiben die Menschen dem Staat in die Arme: Der Staat verspricht, die Dinge zum Besseren zu wenden, er gibt ihnen Arbeitslosengeld und Sozialhilfe, er spielt den Wohltäter – obwohl er die Ursache für Bedürftigkeit und Not der vielen ist.

Inflation sorgt für Verbitterung bei den Menschen, befördert Neid und Missgunst, und sie schürt soziale Konflikte. Auch das ist für den Staat nützlich: Die von ihm bezahlten „Hofintellektuellen“ deuten eifrig das inflationäre Leid der Menschen als Ergebnis des Systems der freien Märkte, des Kapitalismus. Und sie empfehlen, der Staat müsse gegen das unmenschliche kapitalistische System vorgehen, es zähmen, am besten mit Stumpf und Stiel entfernen. Der antikapitalistische Geist, der auf diese Weise kultiviert wird, erlaubt dem Staat, immer größer und mächtiger zu werden – auf Kosten der Freiheit und des Wohlstandes der Bürger und Unternehmer.

Wenn eine Inflation erst einmal in Gang gekommen ist, dann ist es meist schwierig für ein Gemeinwesen, sie wieder loszuwerden. Denn die Inflation formt die Produktions- und Beschäftigungsstruktur der Volkswirtschaft. Arbeitnehmer, Firmen und vor allem Politik, ihre Bürokratie und die Sonderinteressengruppen, die den Staat für ihre Zwecke einzuspannen wissen, ahnen sehr wohl, dass ein Ende der Inflation für sie persönlich Ungemach bedeutet. Sie mögen Inflation als ein Übel erkennen, aber sie sehen sie dennoch als akzeptabel an, wenn es gilt, einem noch größeren Übel – Arbeitslosigkeit, Pleiten, Bedeutungsverlust und Machterosion – zu entkommen.

Und nicht zuletzt eignet sich die Inflation, um radikale Ideologien in die Tat umzusetzen, die dem Staat und seiner Anhängerschaft genehm sind. Die aktuellen Stichworte dazu sind „Großer Neustart“, „Große Transformation“ und „neue Weltordnung“. Mit der Ausgabe von inflationärem Fiat-Geld lassen sich nämlich die wahren Kosten solcher gesellschaftlichen Umwandlungspläne vor den Augen der Öffentlichkeit weitestgehend verbergen.

Beispiel „grüne Politik“. Sie sorgt für eine drastische Verteuerung der Energie und zerstört Arbeitsplätze. Um diese Kosten vor den Augen der breiten Öffentlichkeit zu verschleiern, springt der Staat ein: Er gleicht die Einkommensverluste der Menschen aus, indem er Arbeitslosengeld, Sozialhilfe und Subventionen zahlt. Dazu verschuldet der Staat sich bei seiner Zentralbank, die ihm neues, aus dem Nichts geschaffenes Fiat-Geld bereitstellt.
Die Folge ist Inflation, zum Schaden der breiten Bevölkerung. Der resultierende Verarmungseffekt, die ganze Wucht des Antikapitalismuskults und die Geldentwertung treten in der Regel erst mit einer Zeitverzögerung in Erscheinung – und der Öffentlichkeit fällt es dadurch natürlich schwer, die tatsächliche Ursache der Geldentwertung – und das ist die staatlich betriebene Geldmengenvermehrung – zu erkennen.

Die Inflation wirkt nur dann, bereichert den Staat auf Kosten des Großteils der Bevölkerung, wenn sie von den Menschen akzeptiert, wenn ihre Wirkung nicht durchschaut wird. Treibt der Staat es aber zu wild mit der Inflation, fliegt der Schwindel auf. Die Menschen fliehen dann aus dem Fiat-Geld, die Kaufkraft des Fiat-Geldes schwindet, im Extremfall kann es sogar wertlos werden.

Um eine Flucht aus dem Geld auszulösen, braucht es allerdings, und das zeigt die Erfahrung, sehr hohe Inflationsraten – Jahresraten von vermutlich 20, 30 oder mehr Prozent, und zwar für lange Zeit, begleitet von einer Erwartungshaltung der Menschen, dass die Inflation sich immer weiter beschleunigt, nicht mehr aufhört. Der Staat verfügt also über recht große Missbrauchsspielräume mit seiner Inflationspolitik, bevor die Inflation völlig außer Kontrolle gerät.

Diese Missbrauchsspielräume können allerdings schneller ausgeschöpft sein als man denken würde. Nicht nur Tyranneien und Bananenrepubliken, auch ausgewucherte Wohlfahrtsstaaten können der Hoch- und Hyperinflation verfallen. Die Zeichen dafür stehen bereits an der Wand. Die stark steigenden Inflationsraten dies- und jenseits des Atlantiks sind kein Zufall. Sie sind keine Naturkatastrophe, sie sind nicht etwa die Folge der Lockdown-Krise, der Corona-Krise oder des Ukraine-Krieges.

Die Inflation – also das fortgesetzte Ansteigen aller Güterpreise auf breiter Front – ist das Ergebnis der staatlichen Zentralbankpolitik: Sie hat für eine drastische Ausweitung der Geldmengen gesorgt, die sich jetzt in steigenden Güterpreisen entlädt. Ein Prozess, den die Lockdown- und Corona-Krise und der Ukraine-Krieg zwar verstärken, aber nicht verursacht haben.

Die Inflation wird politisch bewusst eingesetzt, weil sich die offenen Rechnungen des Staates anders nicht mehr begleichen, sich die Wohlstandillusion, das Trugbild von „Vater Staat“ nicht mehr aufrechterhalten lassen. Vermutlich ist die Abscheu der Menschen vor der Inflation aber noch zu gering, als dass man hoffen könnte, man werde sich von der Inflationspolitik abwenden, bevor man noch schlimmere Erfahrungen mit ihr macht.
Dieser Artikel erschien am 16.05.2022 unter folgendem Link: https://www.dasinvestment.com/inflation-steigende-preise-staat-vorteile-thorsten-polleit-degussa/

Dieser Artikel erschien am 16.05.2022 unter folgendem Link: https://www.dasinvestment.com/inflation-steigende-preise-staat-vorteile-thorsten-polleit-degussa