Die EZB skizziert die größten Verwundbarkeiten für das Finanzsystem. Dabei blickt sie vor allem auf die hohen Bewertungen am Immobilienmarkt. Alle sechs Monate analysiert die Notenbank in ihrem Finanzstabilitätsbericht die größten Risiken für das Finanzsystem.
Quelle: dpa
Die Europäische Zentralbank (EZB) sieht durch die Pandemie weiter Verwundbarkeiten im Finanzsystem. „Das Risiko hoher Kreditausfälle von Unternehmen und hoher Verluste für die Banken ist jetzt deutlich geringer als vor sechs Monaten. Aber die Risiken der Pandemie sind nicht ganz verschwunden“, sagte ihr Vizepräsident Luis de Guindos bei der Vorstellung des halbjährlichen Finanzstabilitätsberichts der Notenbank am Mittwoch.
Darin warnt die EZB vor Preiskorrekturen an den Finanzmärkten. Anfälligkeiten sieht die Notenbank vor allem auf den Immobilienmärkten in Ländern, wo es bereits vor der Pandemie hohe Bewertungen gab.
In ihrem Bericht hat sie die vier größten Risiken für das Finanzsystem identifiziert.
- Überzogene Bewertungen – vor allem am Immobilienmarkt
Sorgen bereitet der EZB vor allem die Entwicklung auf dem Immobilienmarkt. Dort sind die Preise im zweiten Quartal 2021 im Euro-Raum so schnell gestiegen wie seit dem Jahr 2005 nicht mehr. Der starke Anstieg der Häuserpreise von rund sieben Prozent bleibe „ein Grund zur Sorge“, heißt es. Dabei sei der Anstieg breiter angelegt gewesen und betreffe sowohl städtische als auch nicht-städtische Gebiete.
In einigen Ländern wie Luxemburg, der Slowakei, Litauen, aber auch in Deutschland und Österreich hat auch die Nachfrage nach Immobilienkrediten deutlich zugenommen. Die EZB erkennt parallel dazu „Anzeichen für eine Lockerung der Standards für Hypothekendarlehen“.
Angesichts der Entwicklung sieht sie stärkere Argumente für den Einsatz makroprudenzieller Regulierung. Dabei geht es zum Beispiel um Vorschriften, um die Kreditvergabe der Banken zu erschweren.
Auch bei Gewerbeimmobilien besteht laut der Notenbank die Gefahr von Preiskorrekturen, auch wenn sich die Aussichten dort zuletzt durch die wirtschaftliche Erholung verbessert hätten.
Für besonders schlecht hält sie die Perspektiven für Objekte mit geringer Qualität. Durch Trends wie Telearbeit, Abstandsregeln und höhere Umweltanforderungen verlagere sich die Nachfrage tendenziell noch stärker ins Spitzensegment. Anfällig für Korrekturen seien zudem besonders von der Pandemie betroffene Segmente wie Einzelhandels- und Büroimmobilien.
Auch in anderen Marktsegmenten außerhalb der Immobilienbranche gehen Investoren höhere Risiken ein. Im vergangenen Jahr notierten die inflationsbereinigten Realrenditen auf einem historischen Tiefstand. Gleichzeitig sind die Bewertungen vergleichsweise hoch.
Diese Kombination birgt laut EZB die Gefahr, dass bestimmte Anleihen mit schlechterem Rating und die Aktienmärkte sehr sensibel auf Zinserhöhungen oder geringere Wachstumsaussichten reagieren. Als mögliche Auslöser einer Korrektur an den Märkten nennt sie unter anderem eine schwächere Konjunkturerholung, Krisen in den Schwellenländern, Probleme außerhalb des Bankensektors und abrupt veränderte Markterwartungen über die Geldpolitik.
Zudem verweist die EZB darauf, dass „außerhalb der Kernmärkte auch einige exotischere Marktsegmente wie Krypto-Assets spekulativen Schwankungen ausgesetzt bleiben“. Eine Gefahr sieht sie außerdem durch die zunehmende Verflechtung von Krypto-Assets und konventionellen Finanzmärkten. Diese Entwicklung könnte durch die wachsende Popularität sogenannter Stablecoins verstärkt werden. Dabei geht es um Krypto-Assets, deren Wert an andere Vermögenswerte oder Währungen gekoppelt ist.
- Schwächen der Banken
Ein weiterer Sorgenfaktor sind die Strukturprobleme der Banken. Insgesamt profitierten die Geldhäuser im Euro-Raum zuletzt zwar von einem besseren Umfeld. So erzielten sie im ersten Halbjahr unter dem Strich bessere Ergebnisse als erwartet. Die weiteren Gewinnaussichten hängen aber stark von der wirtschaftlichen Erholung nach der Pandemie ab.
Als eine wichtige Schwachstelle sieht die EZB notleidende Kredite der Banken. Aus ihrer Sicht besteht die Gefahr, dass die Probleme damit zunehmen könnten, wenn die staatlichen Stützungsmaßnahmen schrittweise auslaufen.
Der oberste Bankenkontrolleur der EZB, Andrea Enria, warnte jüngst erneut, dass die Banken die Entwicklung der faulen Kredite möglicherweise zu rosig einschätzen. Alle Institute erwarteten im Kern einen Rückgang der Problemkredite bis Ende 2022. „Wir sind natürlich besorgt, dass die Erwartung ein bisschen zu optimistisch ist.“
Ein weiteres Problem ist aus Sicht der Notenbank die immer noch geringe Profitabilität der Banken, die hinter Konkurrenten aus anderen Ländern zurückhängt. Ursachen seien niedrige Kosteneffizienz, Überkapazitäten und geringe Margen durch das Niedrigzinsumfeld.
Die Notenbank räumt ein, dass sich die negativen Effekte der Niedrigzinspolitik für die Geldhäuser „mit der Zeit verschlimmern“ könnten. Umgekehrt würden sie aber auch profitieren, wenn die EZB wie bereits andere Notenbanken auch irgendwann die Zinsen anhebt.
Eine Lösung angesichts der Kostenprobleme der Banken wären laut EZB Fusionen und Übernahmen. Diese könnten „ein möglicher Weg sein, damit der Sektor zu einem nachhaltigeren Profitabilitätsniveau zurückkehrt“.
- Probleme außerhalb des Bankensektors
Nicht nur im Bankensektor sieht die EZB konkret Probleme, auch andere Finanzakteure wie zum Beispiel Investmentfonds, Versicherer und Pensionsfonds könnten Schwierigkeiten bekommen. Diese hätten bei der Suche nach Rendite verstärkt in riskantere Anlageformen investiert.
Rund 70 Prozent der von Investmentfonds gekauften Unternehmenspapiere haben demnach ein mittleres oder schlechtes Rating. Zudem hätten sie die Laufzeiten der von ihnen gehaltenen Anleihen erhöht. Daher drohen ihnen im Falle von steigenden Zinsen höhere Kursverluste. Als Problem könnten sich dann auch geringe Liquiditätspolster erweisen. Wenn die Anleiherenditen steigen, könnten Kursverluste die Fonds dazu zwingen, Vermögenswerte zu verkaufen.
Auch Versicherer und Pensionsfonds investierten stärker in Schuldpapiere von Unternehmen mit schlechtem Rating. „Während verringerte Anfälligkeiten des Unternehmenssektors die damit verbundenen Kreditrisiken kurzfristig mindern, bleiben Nichtbanken dem Risiko erheblicher Kreditverluste ausgesetzt, sollten sich die Bedingungen im Unternehmenssektor verschlechtern“, heißt es dazu.
- Zunehmende Insolvenzen
Anders als zunächst befürchtet hat es trotz der Pandemie bisher keine große Pleitewelle gegeben. Die Rate der Insolvenzen ist geringer ausgefallen als die optimistischsten Erwartungen. Firmen im Euro-Raum hätten mit der Wirtschaftserholung im ersten Halbjahr vielfach wieder Gewinne eingefahren. Auch deswegen blieb das Niveau der Insolvenzen unter dem Niveau von vor der Krise.
Dennoch sei die Zahl der „Pleiten in den am meisten von der Pandemie betroffenen Sektoren stark gestiegen“, heißt es im Bericht. Dieses Segment ist nach wie vor sehr anfällig, warnt die Notenbank. Sie fürchtet, dass nach dem Auslaufen der Stützungsmaßnahmen die Zahl der Insolvenzen doch noch stärker steigen könnte. Auch die Lieferkettenprobleme und der jüngste Anstieg der Energiepreise könnten eine Herausforderung für die Wirtschaftserholung und den Inflationsausblick bedeuten.